Es gibt wohl kaum einen Baum, der so in Mythen und Geschichten verwoben ist wie der Holunder. Die Holde oder Holda ist schon seit über 1000 Jahren in Aufzeichnungen und Bildern zu finden. Eine bekannteste dieser Geschichten ist sicher Frau Holle der Gebrüder Grimm. Dabei geht die Geschichte des Holunder sogar noch weiter zurück, in die Zeit der Germanen und der nordischen Mythologie, in der Freya, die Beschützerin von Haus und Hof, ihren Sitz im nahe gelegenen Holunder hatte.
Diese Mythologie findet sich um die Jahrtausendwende, also zum Punkt 0 unserer Zeitrechnung. Vielleicht gibt auch dieser Umstand das be- und verzaubernde des Holunder wieder - wir fühlen uns durch ihn zum ‚Anbeginn der Zeit‘ zurückversetzt. Und mit dem Begriff Anbeginn der Zeit verknüpfe ich noch etwas anderes, was ich stets mit Frau Holle verbinde: sie ist die Mutter, manche nennen sie auch Erdmutter, die uns nährt, uns behütet und beschützt - genauso, wie wir es von unserer leiblichen Mutter kennen, die uns in das irdische Leben trägt und auf den Weg bringt.
Wenn ich mir den Holunder in seiner Erscheinungsform anschaue zeigt er mir die Lebensgeschichte auf: meist besitzt er vielerlei Stämme. Diese stehen für mich für die Wahlmöglichkeiten, die sich immer wieder im Leben zeigen. Und es ist an uns, einen entsprechenden Weg zu wählen. Die weißen Blüten stehen für die leichten, duftenden und lieblichen Erfahrungen der Kindheit und Jugend - verlockend und berauschend zugleich. Die tiefschwarzen beerenähnlichen Steinfrüchte sind einerseits bitter, oft im Nachgeschmack aber auch süß. Sie könnten für das Leben stehen, welches sich uns manchmal bitter und manchmal süß zeigt. Und: Wenn Holda sinnbildlich unsere Mutter ist, was wäre schöner als die Vorstellung, am Ende des Lebens in ihren Schoß zurückzukehren? Sobald die Blüten des Holunders ihren süßen, betörenden Duft verströmten saß ich als Kind an seiner Seite und ließ mich von ihm verzaubern.
Das Schöne ist, dass jeder aus seiner Kindheit die ganz eigenen Duft-Erinnerungen mit sich trägt und auch ganz individuelle Verbindungen mit verschiedenen Pflanzen, Ereignissen und natürlich auch Speisen damit verinnerlicht hat. Holunderblütentee wurde bei Erkältungen verabreicht, denn er unterstützt die Atemwege, löst Schleim und wirkt beruhigend auf’s Gemüt: so findet sich Heilung durch einen tiefen und erholsamen Schlaf.
Mir wurde in den letzten Jahren immer wieder berichtet, dass bei allergischen Reaktionen, wie z. B. Heuschnupfen, durch regelmäßiges Holunderblütentee trinken Besserung eingetreten ist, da Holunder Schleimhäute reinigt und stärkt. Ich selbst habe in der Vergangenheit im Winter immer wieder Holunderbeeren-Suppe gegessen und festgestellt, dass ich in diesen Wintern keine Erkältungen bekam.
Holunderbeeren sind reich an Vitaminen und Mineralstoffen. Ihnen werden vielerlei heilende Wirkungen zugeschrieben, z. B. die Stärkung des Immunsystems, die Reduzierung von Nervenschmerzen, aber auch sonst wirken sie schmerzlindernd und sogar herzstärkend. Die Beeren müssen allerdings vor dem Verzehr ‚verarbeitet‘ werden, d. h. entweder man trocknet oder man erwärmt sie, denn die rohen Beeren sind leicht giftig. Das gilt übrigens auch für alles andere am Holunder.
Die Blüten darf man roh verzehren oder zu Limonade verarbeiten. Aber auch hier gilt: alles in Maßen. Sonst könnte die wundervolle Heilwirkung dieser starken und mütterlichen Pflanze ins Gegenteil umschlagen und sich in Übelkeit, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen oder Schlaflosigkeit äußern.
Und auch dieser Umstand erinnert mich an meine Mutter - hatte sie nicht immer gesagt: ‚Alles in Maßen‘. Ob Sport, Arbeiten, Faulenzen, Essen und trinken, Musik hören, im Stillen durch die Natur gehen… Alles in Maßen - oder von allem etwas! Ich trage diese Worte im Herzen, habe sie immer wieder auf’s Neue überprüft und weiß für mich, dass mir meine Mutter damit ein Geschenk für’s Leben gemacht hat.
Und immer, wenn ich den Duft der Holunderblüten einatme ist sie bei mir, meine Mutter und auch Holda, die Erdmutter, die mich mit Liebe und Kraft durch’s Leben begleiten.